Nato & Russland : Verschobene Machtbalance

Egal, was die Nato sagt oder verspricht: Russland ist nicht mehr so einfach abzuschrecken. Moskau hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es weitere Nato-Erweiterungen bis an seine Grenzen heran nicht zulassen will. Bloß nahm das im Westen niemand ernst, weil das postsowjetische Reich arm und schwach war. Inzwischen ist Russland reich, neuerlich autoritär geführt und hat in Öl und Gas eine neue Waffe entdeckt. Zugleich ist Amerika durch Überdehnung geschwächt. Warum also steht Russland in Georgien? Weil niemand es daran hindern konnte. An dieser Einschätzung der neuen globalen Machtverhältnisse hätte nicht einmal eine Blitz-Aufnahme Georgiens auf dem Nato-Gipfel in Bukarest etwas geändert. Russlands Machthaber Vladimir Putin verstand bloß schneller als andere, wie sich die Machtbalance auf der Welt verschoben hat. Und er handelte.
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Statt sich selbst und ihrem Publikum weiter etwas vorzumachen, sollten die Regierungen in Europa nüchtern die Lehren der Kaukasus-Krise ziehen:

Erstens: Alle im Westen, auch die einst ins Sowjetimperium gepressten Staaten Osteuropas, müssen mit Russland auskommen. Das erfordert Respekt für die Interessen Russlands, die klare Formulierung der eigenen und Offenheit für gemeinsame Interessen. Dabei sind die eigenen Interessen an enger Zusammenarbeit mit Russland – bei so entscheidenden Fragen wie der Energiesicherheit, dem Umweltschutz, der Verhinderung nuklearer Verbreitung, der Sicherung Afghanistans – zumeist stärker als die der Abgrenzung und Abwehr.

Zweitens: Wo Russlands Interessen - wie im Kaukasus - im Gegensatz zu den eigenen stehen, hat die Bemühung um Interessen-Annäherung allemal Vorrang vor Konfrontation. Das wird nicht immer gelingen, nicht im Kaukasus und nicht in der Frage der Eigenständigkeit und Westbeziehung der Ukraine. Dann aber hat eine Gegenposition zu Russland nur Aussicht auf Erfolg, wenn der Westen über die besseren Karten verfügt. Das wäre auch die Vorbedingung für russische Kompromissbereitschaft.

Drittens: Auf die innere Entwicklung Russlands kann der Westen kaum einwirken. Deshalb muss Russland-Politik sich auf den Versuch konzentrieren, das äußere Verhalten Moskaus zu beeinflussen. Dieser Versuch ist bisher nicht ohne Erfolg gewesen, weil er sich auf russisches Eigeninteresse abstützen konnte. Das Russland Putins ist kein Aufguss der Sowjetunion. Der neue Kreml weiß im Gegensatz zum alten, dass die äußeren Interessen des Landes von einem Netz internationaler Beziehungen abhängen, das von den Mitspielern die Einhaltung gewisser Regeln verlangt. Moskau hieran zu mahnen, auch im künftigen Umgang mit Staaten an Russlands Peripherie, ist aussichtsreicher als alle Droh- und Trotzgebärden.
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