Hängt Wohlstand von Intelligenz ab oder Intelligenz von Wohlstand?
Dass kognitive Kompetenzen nicht wenig mit nachhaltigem Wirtschaftserfolg zu tun haben, stellt die Grundlage der durch die Wirtschaftsorganisation OECD durchgeführten Pisa-Studien dar. Empirische Untersuchungen belegten enge Zusammenhänge zwischen kognitiven Kompetenzen - seien sie durch Intelligenztests oder durch Schulleistungstests gemessen - und dem Bruttoinlandsprodukt wie dem Wirtschaftswachstum.
Daneben sind Bildung und Kompetenzen auch für politische Einstellungen und Institutionen bedeutsam, für Toleranz, Liberalität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Mehrheitsprinzip und Entscheidungsfindung über Wahlen implizieren, dass die Mehrheit der Wähler erkennen kann, was gut für sie und für das Land ist, dass abweichende Meinungen toleriert werden und dass Personen bestimmte demokratische Werthaltungen teilen. Größere Untersuchungen zur kognitiven Epidemiologie haben belegt, dass Bildung und Intelligenz, auch unabhängig vom Wohlstand, positiv mit Gesundheit und Lebenserwartung zusammenhängen. Internationale Unterschiede in der HIV-Belastung lassen sich beispielsweise besser durch Unterschiede in Bildung und Intelligenz erklären als durch Wohlstandsdivergenzen. Intelligentere Personen verhalten sich dank Einsicht und Wissen im Durchschnitt gesünder und verfügen über eine höhere biopsychische Systemintegrität.
Ist Intelligenz das Ergebnis von Erb- oder von Umwelteinflüssen?
Für das Intelligenzwachstum ist dagegen das Bildungssystem (Krippe, Kindergarten, Schule, Universität) ein entscheidender Faktor. In der Kindheit und Jugend nimmt die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen immer weiter zu, und zwar pro Jahr um ca. fünf IQ-Punkte. Rund achtzig Prozent dieses Intelligenzzuwachses gehen auf das Konto der Schule.
Variiert Intelligenz in modernen Gesellschaften mit Schichtung?
Da Intelligenz ein besonders wichtiger Faktor für den Schul-, Studien-, Ausbildungs- und Lebenserfolg ist (daneben spielen natürlich auch Persönlichkeitsmerkmale wie Motivation, Fleiß, Arbeitshaltung, Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit eine Rolle), wird sich langfristig, wenn Leistung eher zum Aufstieg und Nichtleistung zum Abstieg führen, eine Schichtung nach Intelligenz und Persönlichkeit einstellen. Je meritorischer eine Gesellschaft ist, desto weniger Ressourcen verbleiben in unteren Schichten, da intelligentere Personen aufsteigen bzw. aufgestiegen sind und ihre Intelligenz über Gene und durch ein intellektuell stimulierendes Entwicklungsmilieu zu nennenswertem Anteil an ihre Kinder weitergeben.
Ausschlaggebend für Intelligenz- und Sprachentwicklung der Kinder war hier nicht so sehr die Schichtzugehörigkeit oder Ethnie, sondern die Erziehungsqualität und insbesondere das Sprechverhalten der Eltern, was, und das darf nicht ausgeschlossen werden, genetisch mitbeeinflusst ist.
Erwachsene sollten mit kleinen Kindern möglichst viel und variantenreich sprechen und den Kindern möglichst viele Sprechanlässe geben. Migrantenkinder, bei denen die familiären Verhältnisse dies nicht zulassen, sollte man möglichst frühzeitig in eine Kinderkrippe aufnehmen, in der, und das ist sehr wichtig, eine hohe sprachliche Interaktionsdichte zwischen Betreuerin und Kind gewährleistet ist, was ausgesprochen kleine Gruppengrößen erfordert, Ähnliches gilt auch für Kindergärten. Das kostet kurzfristig viel Geld, bringt langfristig aber hohe volkswirtschaftliche Renditen.
Gibt es einen Zusammenhang von Intelligenz und muslimischer Kultur?
In der Tat schneiden türkische Immigrantenkinder in Schulleistungs- und Intelligenzteststudien schwach ab. Diese Werte korrespondieren mit ähnlichen Werten in den Herkunftsländern und einer geringeren Bildung Erwachsener sowie einem intellektuell weniger stimulierendem Familienklima. Deshalb sind die Befunde vermutlich gültig.
Bei Cousin-Cousinen-Ehen ist im Schnitt die Intelligenz der Nachkommen um drei IQ-Punkte abgesenkt; hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Krankheiten. Nach internationalen Statistiken werden in der Türkei 21 Prozent aller Ehen zwischen Verwandten geschlossen, in Afghanistan 55 Prozent, in Pakistan 61 Prozent, im Schnitt der muslimischen Länder 32 Prozent. In Westeuropa liegt die Häufigkeit unter einem Prozent. Das würde, auf ein muslimisches Land hochgerechnet, etwa eine Beeinträchtigung von maximal ein bis zwei IQ-Punkten ergeben. Rechnet man hypothetisch Folgeeffekte auf Kinder über die Erziehung und Mehrfachverwandtenheiraten hinzu, dann könnten es bis zu drei oder vier IQ-Punkte sein. Verwandtschaftsehen klären damit nur einen kleineren Anteil der Differenz von im Mittel 10 bis 20 IQ-Punkten auf.
Wichtiger sind die kulturellen Faktoren, die unter anderem zu diesen Verwandtenheiraten führen, aber noch entscheidender ist die Wertschätzung des Denkens. Es ist schwierig, die Wirkung von Weltanschauungen auf die Erziehung, damit auf Intelligenz und umgekehrt von Intelligenz auf Kultur zu bestimmen. Kritisch sind für herkömmliche Strömungen des Islams die Traditionen autoritären Auswendiglernens, mangelnde Orientierung zum Selberdenken und autoritäre Erziehung in Familien. Hinzu kommen eine gescheiterte Geschichte der Aufklärung, die geringe Bildung von Frauen und damit der Mütter, ein generell geringes Bildungsniveau der Eltern, das aufzuholen ein bis zwei Generationen dauert.
Sinkt die Intelligenz der nachfolgenden Generationen?
Empirisch beobachtbar war im 20. Jahrhundert aber genau der gegenteilige Effekt, ein Anstieg der Intelligenz pro Dekade um im Schnitt drei bis fünf IQ-Punkte. Dieser Intelligenzanstieg manifestierte sich stärker in Denkaufgaben, die logisches Schlussfolgern erfassen, und weniger in wissensnahen Aufgaben wie Wortschatzfragen. Der Intelligenzzuwachs scheint sich in Industrieländern abgeschwächt zu haben, in Entwicklungsländern ist der Anstieg seit etwa einer Generation besonders stark.
Ein kurzes Fazit:
Sarrazins Thesen sind, was die psychologischen Aspekte betrifft, im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar. Hier und da ließe sich sicher eine abweichende Gewichtung vornehmen. Massive Fehlinterpretationen haben wir aber nicht gefunden. Sarrazin macht auch Vorschläge zur Förderung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern. Seine diesbezüglichen Anregungen sind vernünftig und unterscheiden sich wenig von denen, die in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion auch von anderen geäußert werden (z. B. mehr Krippen; mehr und bessere Kindergärten; intensivierte Sprachförderung; Ganztagsschulen).
Heiner Rindermann
Detlef Rost
auf faz.net
Was ist dran an Sarrazins Thesen? (Auszüge)
Themen:
bildung,
studie,
Thilo Sarrazin