Vom Staatsbürger zum Bürgerstaat

(Auszug)
Der Kontrast mit der Schweiz lässt das Verhältnis des Staates zum Bürger noch klarer werden. Während der Schweizer Bürger dem Staat widerwillig einen kleinen Teil seines Geldes abliefert, lässt der deutsche Staat aus Großzügigkeit dem Bürger einen noch kleineren Teil. Und so geht es beim viel gescholtenen schweizerischen Bankgeheimnis keineswegs in erster Linie um den eigenen finanziellen Vorteil, sondern es geht um ein anderes Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Das Bankgeheimnis verkörpert eine Staatsauffassung: Der Bürger ist nicht Untertan, sondern Souverän; der Staat ist nicht Obrigkeit. Die Schweiz ist deshalb ein Bürgerstaat. In Deutschland ist man Staatsbürger.

In einem Bürgerstaat wie der Schweiz ist Kontrolle gut, Vertrauen aber besser – was eine deutlich höhere Steuerehrlichkeit zur Folge hat. Der Schutz der Privatsphäre wird höher gewichtet als das Interesse des Staates auf fiskalische Vollabschöpfung. Wenn es aber der deutschen Politik gelingt, den Bürger glauben zu machen, dass reiche deutsche Steuerhinterzieher unter dem Schutz des Bankgeheimnisses dafür verantwortlich sind, dass in Deutschland die Steuern hoch sind und dass deshalb die sogenannten Steueroasen ausgetrocknet werden müssen, dann sehen die deutschen Bürger nicht, dass sie sich ins eigene Fleisch schneiden: Wenn es keinen Steuerwettbewerb mehr gibt, kann die deutsche Politik die Steuerschraube anziehen, wie sie will – es gibt kein Entrinnen.

Reinhard Sprenger
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