In keinem anderen Staat, die USA inbegriffen, ist der Unterschied zwischen der niederschmetternden Durchschnittlichkeit politischer Ereignisse und ihrer medialen Vermarktung so gross. Mediale Hyperventilation ist Dauerzustand. Nähme man nur die Medien des Mainstreams zum Massstab, man müsste zum Schluss kommen, wir befänden uns in einem apokalyptischen Strudel. Kommt eine Krise, raunt man ahnungsvoll vom «Ende des Kapitalismus». Streitet man in der Koalition, kann der Sturz der Regierung nicht mehr weit sein. Aus jedem gesellschaftspolitischen Diskurs wird ein Kulturkampf. Hat man Mühe mit der Immigration, «scheitert» sie. Die Dinge «drohen».
Es hat etwas geradezu Einschläferndes. Fünf sozialdemokratische Parteien sitzen im deutschen Bundestag. Über die Sozialdemokraten braucht man nicht zu sprechen. Die Unionsparteien haben unter Merkels Führung sukzessive sozialdemokratische Positionen besetzt, und selbst ihre eigenen Anhänger sind nicht mehr in der Lage, Restbestände des einst hochgehaltenen Konservatismus zu finden. Roland Koch, der letzte Konservative der CDU, hat dieser eben den Rücken gekehrt. Die Grünen haben ein Hauptthema, die Umwelt, das nicht zwingend eine bestimmte wirtschaftspolitische Ordnung voraussetzt, doch sie denken wie Sozialdemokraten: Sie wollen besteuern und umverteilen. Etwas anderes will auch die Linkspartei nicht, und deshalb ist sie in ihrer Tagespolitik zumindest absolut sozialdemokratisch, auch wenn man um den Staat, in dem sie alleine regierte, fürchten müsste. Die Kommunisten, die der Linkspartei kleinbürgerlichen Revisionismus vorwerfen, haben durchaus recht. Die Truppen Lafontaines und Gysis wollen die soziale Marktwirtschaft nicht kippen, sondern besteuern – nur eben noch massiver als die übrigen Sozialdemokraten.
Und es ist eben gerade nicht die behauptete angebliche Zerrissenheit, sondern die dröge faktische Einförmigkeit deutscher Politik, die die Hysterie in den Medien und die Hahnenkämpfe der Politik provoziert. Deutsche Politiker leiden unter einer kollektiven Profilierungsneurose. Sie wissen genau, dass sie sich im Grunde nur geringfügig von ihren Rivalen unterscheiden, und das verleitet sie zum rhetorischen Overkill. Beklagenswert ist beides, die Dauerpolemik der Medien und Politiker ebenso wie der breite faktische Konsens in der Classe politique. Und beides hat unangenehme Konsequenzen.
Der breite politische Konsens verführt dazu, heikle Fragen zu verdrängen und intellektuelle Tabuzonen zu schaffen. Thilo Sarrazin polemisiert gerne. Seine manchmal bedenkenswerten, manchmal wohlfeilen Zuspitzungen und die Art, in der er sich über Migranten äussert, haben etwas Schnoddriges, Junkerhaftes, das man als rassistisch interpretieren mag. Doch die «Debatte», die der Sozialdemokrat ausgelöst haben will, ist steril und oberflächlich geblieben. Nur ganz wenige Medien und Politiker haben sich mit seinen Thesen intensiv auseinandergesetzt. Die meisten beliessen es bei den bekannten rituellen Tänzen schneller Entrüstung und politischer Korrektheit. Das führt zwangsläufig zu intellektueller Verarmung.
Das Volk denkt anders. Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Der Bürger wählt die Hälfte des Bundestags direkt, darüber hinaus hat er wenig zu sagen, seit dem Krieg misstraut man ihm grundsätzlich. Die meisten Parteien behaupten zwar, sie wollten diesen Zustand ändern, und rufen ausgiebig nach mehr Plebisziten, auch auf Bundesebene. Aber konkret tun sie nichts – wollten sie wirklich etwas ändern, sie hätten es längst getan. Das öde Theater, das Politiker und Medien aufführen, dient der Unterhaltung einer äusserst passiven Mehrheit. Suggeriert wird zum einen die Wichtigkeit der Materie und zum andern die Unentbehrlichkeit der Politiker.
Zwei Tage lang schimpften Medien und Politiker nach der Minarett-Abstimmung unisono über die hinterwäldlerische Schweiz und klopften sich im Bewusstsein auf die Brust, dass so etwas hierzulande nicht möglich wäre. Doch die Tugend war, wieder einmal, nur Mangel an Gelegenheit. Im virtuellen Raum offenbarte sich, dass die Deutschen exakt so wie die Schweizer abgestimmt hätten. Das gilt auch für anderes. Vieles spricht dafür, dass die Deutschen, wagte man nur etwas mehr direkte Demokratie, ihre D-Mark schon längst wieder hätten – nun, nach der Griechenland-Krise, erst recht. Dass sich Berlin niemals in Afghanistan engagiert hätte, steht fest; vielleicht hätte man sogar bereits der EU den Rücken gekehrt.
Auf der Strecke bleiben im Trubel des inszenierten Medientheaters die wichtigen Probleme des Landes. Wie die horrende Staatsschuld abgetragen werden soll, will kein Politiker konkret sagen, und die Medien, die sich sonst so überaus mutig gebärden, werden verblüffend duckmäuserisch, wenn dieses Thema aufs Tapet kommt.
Nicht die Parteiendemokratie Deutschland, nicht das zentralistische Frankreich hat die Schulden gering gehalten, sondern die Schweiz, in der der angeblich so unzuverlässige, verschwendungssüchtige und leicht zu verführende Bürger überall dreinreden kann.
Zurückhaltende staatspolitische Vernunft kommt nicht von oben, sondern von unten. Sie wächst aus den kleinen Gruppen, aus den Familien und Gemeinden, sie wächst dort, wo die Bürger den Überblick behalten haben, wo sie zuständig sind, wo sie keine Experten benötigen, die ihnen das Denken abnehmen, wo sie selber entscheiden.
Ulrich Schmid
auf nzz.ch
Ulrich Schmid: Die Lust an der politischen Schweinegrippe
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